Klimawandel stoppen – Siedlungsstruktur verändern

von Werner Vontobel

Wenn wir unsere Umwelt erhalten und den Klimawandel stoppen wollen, müssen wir die Siedlungsstruktur ändern und die Nahrungskette neu organisieren. Das allein reicht zwar nicht, aber alles andere ist zweitrangig.

Für viele ist es vorerst bloss eine mediale Erfahrung: Die Hurrikans toben vorwiegend in den USA, von den verseuchten Böden lesen wir in den Zeitungen, Rohstoffe und Lebensmittel werden für uns nicht knapp, sondern allenfalls ein wenig teurer, und die Klimaveränderungen können wir eh nicht vom Wetter unterscheiden. Für immer mehr Menschen ist aber die Umweltkatastrophe schon Realität, sie verlieren ihre Lebensgrundlage, der Kampf um die verbliebenen Ressourcen führt zu Kriegen und Völkerwanderungen.

Daran sind wir mitschuldig, zumindest im kausalen Sinn. Der durchschnittliche Schweizer etwa verbraucht nach offiziellen Quellen 3,5 mal mehr Ressourcen als er anteilsmässig (prozentual zur Weltbevölkerung) beanspruchen dürfte. Da ist jedoch eine Durchschnittsrechnung, die nicht berücksichtigt, dass der Klimawandel (bzw. die Treibhausgase) das ganz grosse Problem ist. Gemessen an diesem Kriterium müsste die Schweiz ihren Verbrauch sogar um den Faktor 9,9 einschränken, wenn wir den Klimawandel nicht beschleunigen wollen.

Bestandesaufnahme

Um unsere Lebensweise umweltverträglich zu machen, reichen punktuelle Massnamen, wie mehr ÖV statt Benzinmotoren, weniger Verpackungen, oder mehr Gemüse statt Fleisch, bei weitem nicht. Was wir brauchen, ist ein Plan und der fängt mit einer Bestandsaufnahme an. Der Ökobilanzierer Gabor Doka hat dies, basierend auf Zahlen des Stockholm Resilience Center (SRC) für die Schweiz versucht. Zu diesem Zweck hat er zunächst einmal bilanziert, welche unserer Bedürfnisse wie Wohnen, Ernährung, Reisen, Computer etc. den Klimawandel wie stark belasten. Die entsprechende Liste umfasst gut 100 Einzelposten bis hin etwa zu Zucker und Honig im Gebäck, wovon der Schweizer pro Jahr 41,48 Kilo konsumiert und das Klima mit 22,84 Kilo CO2 belastet. Dies nur als Beispiel.

Unter dem Strich zeigt sich folgendes: Mit 41% liefert die individuelle Mobilität den grössten Beitrag zur Klimabelastung. Da müssen wir einen Moment innehalten: Der Schweizer verbraucht allein für die Mobilität 41% seines ohnehin weit überrissenen Umweltbudgets, bzw. fast 400 Prozent dessen, was ihm insgesamt nachhaltig zur Verfügung steht. Sein Finanzbudget wird damit aber laut dem Bundesamt für Statistik nur mit 8,2% belastet. So viel zu den vielbeschworenen Knappheitssignalen des Marktes.

Weitere 31% der Klimabelastung entfallen auf das Wohnen, wozu wiederum die Wärme gut zwei Drittel beiträgt. Auch hier zeigt sich ein ähnliches Missverhältnis: 200 Prozent des Umweltbudgets gegenüber etwa 3% des Finanzbudgets. Heizöl ist sehr teuer für die Umwelt, aber billig für das Portemonnaie.

Der drittwichtigste Klimasünder ist die Ernährung mit einem Anteil von 18%, bzw. rund 180% des nachhaltigen Umweltbudgets. Bei der Ernährung sind die dafür notwendigen Transportleistungen bis und mit Verkaufsstelle mitgerechnet. Das gilt auch für alle Industrieprodukte, die oft um die ganze Welt transportiert werden. Berücksichtigt man dies mit, sind die Transportleistungen und die Mobilität für weit mehr als die Hälfte der von der Schweiz ausgehenden Klimabelastung verantwortlich.

Der strategische Plan

So weit die Bestandsaufnahme. Nun zum Plan: Doka und der Zürcher Städteplaner Hans Widmer von neustartschweiz.ch sehen zwei strategische Hauptstossrichtungen.

Erstens: Dichter gebaute Städte. Heute ist ein Schweizer im Tagesschnitt 90 Minuten lang unterwegs und legt dabei 36,8 Kilometer zurück, 44% davon ist Freizeitverkehr. Eine intelligente Siedungsplanung kann die Wege zur Arbeit, zum Einkauf, zum Arzt, zur Abendunterhaltung und in die Naherholung massiv verkürzen und in Geh- bzw. Velodistanz bringen. Allein dadurch kann der für diese Zwecke (also ohne Freizeitverkehr) nötige Energieaufwand ohne Komforteinbusse um etwa zwei Drittel verringert werden. Die Zeiteinsparnis kommt noch dazu.

Dichtere Siedlungen senken zudem die Wärmekosten des Wohnens, denn diese hängen in hohem Masse von der Aussenfläche ab. 100 allein stehende Einfamilienhäuser verbrauchen pro Quadratmeter Wohnfläche doppelt so viel wie ein fünfstöckiger quadratischer Wohnblock mit Innenhof für rund 500 Bewohner. Zudem kann man mit Gemeinschaftsräumen bei gleicher Wohnqualität die Wohnfläche pro Kopf deutlich reduzieren.

Zweitens muss die Nahrungskette neu organisiert werden. Unsere Vorfahren haben von der Hand in den Mund gelebt. Die Hand wusste, was der Mund will. Heute liegen zwischen der Hand und dem Mund unzählige Lagerhäuser, Abfüllstationen, Kühlhäuser, Kühlschränke, zehntausende von Transportkilometer und viele Milliarden Werbeausgaben. In den USA werden jährlich weit über 10 Milliarden Dollar für Nahrungsmittelwerbung ausgegeben, jeder US-Amerikaner sieht pro Tag 20 Werbespots allein am Fernsehen. Etwa ein Drittel der Nahrungsmittel geht auf dem Weg von der Hand zum Mund verloren und etwa ein Drittel der Menschen nimmt heute den Mund zu voll. Daran ist nicht nur die Werbung schuld, sondern auch die Tatsache, dass die Food-Multis ihre Produkte so raffiniert zubereiten, dass die natürlichen Sättigungssignale ausgeschaltet werden.

Das ist nicht nur ungesund und unökologisch, sondern auch unsozial. Die globalisierte Food-Chain produziert dort, wo die Umweltauflagen am schwächsten und die Löhne am tiefsten sind. In Italien etwa arbeiten (überwiegend afrikanische) Tomatenpflücker 90 Stunden pro Woche zu einem Stundenlohn von 2.20 Euro. Dieser globale Lohndruck wirkt sich auch auf die Schweizer Bauern und auf die Arbeitskräfte in der Gastronomie aus. Sie verdienen pro Arbeitsstunde nur etwa halb soviel wie ein Durchschnittsschweizer.

Hinter den rund drei Stunden, die der Durchschnittsschweizer pro Woche arbeiten muss, um sein Essen (zuhause und auswärts) bezahlen zu können, stecken also mindestens 6, wahrscheinlich sogar eher 10 effektive Arbeitsstunden. Rechnet man den Einkauf, die Zubereitung, Tischdecken, Abwaschen usw. dazu, entfallen gut ein Drittel der bezahlten, der unbezahlten und der «gestohlenen» Arbeit auf die Ernährung. Dazu kommen die oben erwähnten Klimakosten von rund 180% des nachhaltigen Budgets.

Landbasis zur Versorgung

Das könnte man viel besser machen. Zu diesem Zweck muss man die Hand und den Mund wieder näher zusammenbringen. Widmer schlägt vor, dass je eine Nachbarschaft von rund 500 Einwohnern gemeinsam eine Landbasis (Bauernhof) von etwa 50 bis 60 Hektaren betreibt. Damit kann man gut 70% des Kalorienbedarfs, bzw. des Verbrauchs an Getreide, Kartoffeln, Obst, Gemüse, Milchprodukten, Eiern, Fleisch, Speiseöl und Zucker decken. Je geringer der Anteil Fleisch, desto kleiner die nötige Fläche. Was angebaut wird, beschliesst die Nachbarschaft. Gegessen wird – wie einst – das, was geerntet wird. Auch zweibeinige Rüben, klein geratene Äpfel und übergrosse Chabis-Köpfe kommen auf den Tisch.

Ferner wird auch ein Teil der Verarbeitung zurück auf den Bauernhof und in die Nachbarschaft verlegt – Mahlen, Backen, Käserei etc. Gelagert, gekocht und gegessen wird überwiegend in Gemeinschaftsküchen und in der Cafeteria. In der eigenen Wohnung genügt eine Kochnische oder man holt sich eine mobile Küche. Ein eigener Kühlschrank wird überflüssig, die Nahrung muss weniger verarbeitet und haltbar gemacht werden und ist damit deutlich gesünder.

Auf der Landbasis arbeiten zwar Profis, aber für Spitzenbelastungen wird die Nachbarschaft beigezogen. All das ist nicht nur Theorie, sondern wird auch schon mit Erfolg praktiziert. Wenn man es richtig organisiert, wird die (gemeinsame) Arbeit in der Landbasis zum Erlebnisurlaub – halb Arbeit, halb Vergnügen und darüber hinaus ziemlich viel Geselligkeit.

Überhaupt geht es darum, möglichst viele produktive Tätigkeiten in die Nachbarschaft, ins Quartier (bis zu 40 Nachbarschaften) und in die Stadt zurück zu holen – nebst Wohnen und Nahrung auch Kleingewerbe, Reparatur, Schule, Pflege, Unterhaltung, Polizei usw. Wir werden weniger gegen Geld arbeiten und dafür mehr auf Gegenseitigkeit. Die Nähe macht die Bedürfnisse wieder sichtbar. Sie müssen nicht erst durch Werbung geweckt werden. Das erspart auch eine Menge Bürokratie.

Lokale Energieproduktion

Auch die Energieversorgung wird lokaler. Zwar braucht es weiterhin zentrale Dienste wie Grossindustrie, Universitäten usw. und natürlich wird man weiterhin Bananen, Gewürze und Olivenöl importieren. Doch mit der heutigen Technologie (Digitalisierung, Regenerative Landwirtschaft, Alternativenergie etc.) und mit einer intelligenten Siedlungsstruktur ist es durchaus möglich, 80% aller produktiven Tätigkeiten im Umkreis von 30 Kilometern zu verrichten. Allein dadurch werden wir die Klimabelastung drastisch verringern.

Zudem werden wir ein besseres und geselligeres Leben führen. Eine Studie der Oxford University mit 400'000 Bewohnern von 22 britischen Städten und Vororten zeigt, dass die Bewohner der Vororte dicker sind, sich weniger bewegen und weniger soziale Kontakte haben als die Städter. Je dichter die Besiedlung, desto besser die Werte. Selbst die Reichen in ihren Luxusvillen und Lustgärten sind in dieser Beziehung schlechter dran als die Bewohner der dicht besiedelten Innenstädte. Dabei sind auch diese zur Zeit noch weit von der optimalen Lebensqualität entfernt.

Doch der Weg zu einer umweltverträglichen Lebensweise ist kein Stadtbummel. Eine dichtere Besiedlung und eine lokalere Foodchain sind zwar unabdingbar, aber sie allein reichen nicht, um den Verbrauch auf ein nachhaltiges Mass zu verringern. Ganz ohne Verzicht geht es nicht. Das betrifft vor allem den Reiseverkehr. Die Weltreise mit dem Kreuzschiff liegt ebenso wenig drin, wie Christmas-Shopping in New York und auch für die jährlichen Ferien am Mittelmeer haben wir keine Mittel mehr (ausser wir nehmen wieder die Bahn). Sogar beim Wohnraum müssen wir uns einschränken.

Hat da jemand «Ökodiktatur» gesagt? Ja, aber die wahre Ökodiktatur herrscht dann, wenn man durch Dürre, Waldbrand, Orkan oder Überschwemmung von zuhause vertrieben wird und sich ein paar Wochen lang mit 10 Quadratmetern in einer Turnhalle begnügen muss. Doch diese Diskussion können wir uns vorerst ersparen. Entscheidend ist, dass wir mit dem Umbau unserer ressourcenverschlingen Lebensweise anfangen. Wir müssen das auslöffeln, was uns die viel zu billige Energie im Verlaufe der letzten Jahrzehnte eingebrockt hat. Dazu braucht es erst einmal kontrollierte Experimente. Das, was im Kleinen schon praktiziert wird (Nachbarschaften, Landbasis etc.), muss systematisch ausgetestet und verbessert werden. Die Prototypen müssen serientauglich werden.

Dazu müssen erst einmal auf nationaler Ebene die raumplanerischen Voraussetzung geschaffen werden. Dann sind die Gemeinden dran. Sie müssen kompakte Wohnformen fördern statt grossparzelliges Bauland für die Reichen bereit zu stellen. Die Verkehrsplanung müsste sich jetzt schon darauf ausrichten, dass wir den Verkehr eindämmen statt fördern. Auch höhere Preise für Treibstoff und Transportleistungen könnten schon mal nicht schaden. Aber alle diese Einzelmassnahmen leuchten nur ein, wenn wir — endlich — einen Plan haben.

Zurück